Die Sache Authentizität

Die Authentizitätsfalle

Wenn "Echtheit" zum Problem wird

Autor: Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2024

In der pädagogischen Praxis spielen Werte wie Authentizität und Professionalität eine zentrale Rolle. Das Konzept der Authentizität ist aktuell besonders faszinierend, da es stark mit der Persönlichkeit und den individuellen Erfahrungen der Lehrenden verknüpft ist. Lehrende müssen authentisch auftreten, um eine vertrauensvolle und offene Lernatmosphäre zu schaffen, doch dies birgt auch eine ganze Menge an Herausforderungen. Die Frage, wie viel Authentizität in der Bildungsarbeit und im Lernkontext förderlich oder sogar notwendig ist, bedarf einer differenzierten Betrachtung.

Die Idee der Authentizität in der pädagogischen Praxis wird weithin als wünschenswert angesehen – etwa als authentische Lehrenden-Persönlichkeit, die ehrlich, echt und transparent im Umgang mit den Lernenden ist. Allerdings gibt es einige Problemfelder, die diese Idee in der Praxis herausfordernd machen können.

 

Problematische Aspekte der Authentizität in der pädagogischen Praxis

 

  1. Balance zwischen Professionalität und Authentizität Lehrende müssen eine gesunde Balance finden zwischen ihrer echten Persönlichkeit und ihrer professionellen Rolle. Manchmal kann das authentische Verhalten Lehrender im Widerspruch zu den pädagogischen Erfordernissen oder den Bedürfnissen der Lernenden stehen. Zum Beispiel mag ein Lehrender an einem bestimmten Tag schlechte Laune haben oder aufgrund persönlicher Probleme gereizt sein. Wenn er nun "authentisch" wäre und diese Gefühle ungefiltert in die Bildungsarbeit einbrächte, könnte dies das Gruppenklima negativ beeinflussen, die Lernatmosphäre belasten und Lernende verunsichern. Professionelles Verhalten erfordert oft, dass die Lehrenden ihre persönlichen Gefühle zurückstellen, um ein positives Lernumfeld zu schaffen.

  2. Gefahr der Grenzüberschreitung Authentizität führt auch zu einer Verwischung von persönlichen und beruflichen Grenzen. Wenn Lehrende zu viel von ihrer eigenen Persönlichkeit oder ihrem Privatleben preisgeben, kann das zu unangemessenen Beziehungen mit den Lernenden führen oder deren Autorität als Lehrende untergraben. Ein Beispiel wäre, wenn eine Lehrende persönliche Probleme mit ihren Lernenden teilt, um "authentisch" zu wirken. Das belastet die Lernenden mehr als es hilft, da sie möglicherweise nicht die emotionale Reife haben, damit umzugehen, und es untergräbt die notwendige professionelle Distanz.

  3. Ungleichbehandlung der Lernenden Authentizität kann auch bedeuten, dass Lehrende offen mit ihren persönlichen Vorlieben und Abneigungen umgehen. Das hat zur Folge, dass bestimmte Lernende bevorzugt oder benachteiligt behandelt werden, weil die Lerhende Person persönliche Sympathien oder Antipathien nicht unterdrückt. Ein praktisches Beispiel wäre, dass ein Lehrender eine besonders motivierte und aufgeweckte Teilnehmende sehr schätzt und dies auch offen zeigt, während sie anderen Lernenden weniger Aufmerksamkeit schenkt, weil sie sich von deren Verhalten genervt oder gelangweilt fühlt. Die Folge ist eine ungleiche Behandlung widerspricht den Prinzipien der Gerechtigkeit und Fairness in der Bildung.

  4. Schutz des Privatlebens der Lehrenden Lehrende sollten sich zudem immer bewusst sein, dass ihre Rolle eine gewisse Zurückhaltung verlangt, um ihr Privatleben zu schützen. Wenn ein Lehrender bspw. übermäßig authentisch und offen über politische Meinungen, religiöse Überzeugungen oder persönliche Werte spricht, wird das unweigerlich (wenn auch still) Spannungen und Konflikte erzeugen. Lernende kommen aus verschiedenen familiären und kulturellen Hintergründen, und es besteht die Gefahr, dass sie die Lehrenden aufgrund von unterschiedlichen Meinungen oder Ansichten nicht mehr als neutral wahrnehmen. Das beeinflusst und beeinträchtigt nicht nur das Lernklima, sondern auch die Lernmotivation der Lernenden.

Beispiele zum Thema

 

  • Beispiel 1: Offenheit über eigene Meinungen Ein Lehrender spricht während des Seminars oder Trainings sehr offen über seine persönlichen politischen Ansichten. Ein Teil der Lernenden teilt diese Meinung, während andere sie ablehnen. Das Ergebnis ist, dass sich einige Lernende unterstützt fühlen, während andere das Gefühl haben, ihre Meinungen seien weniger wert oder unerwünscht. Dies kann das Gruppenklima vergiften und die Lernenden davon abhalten, ihre eigenen Ansichten frei zu äußern.

  • Beispiel 2: Emotionale Ehrlichkeit Eine Lehrerende ist an einem Tag gestresst und verärgert, weil sie in ihrer Familie Probleme hat. Sie beschließt, "authentisch" zu sein und lässt ihre schlechte Stimmung in ihre Vermittlungsarbeit einfließen. Das hat zur Folge, dass die Lernenden verunsichert werden und sie daran hindert, sich auf das Thema und die Inhalte zu konzentrieren. Stattdessen könnten sie sich bspw. Sorgen machen oder unsicher fühlen, wie sie mit der Situation umgehen sollen.

  • Beispiel 3: Persönliche Beziehungen Ein Lehrer erzählt in der Klasse häufig Anekdoten über seine eigenen Kinder und sein Familienleben. Einige Lernende finden das interessant, andere könnten jedoch das Gefühl bekommen, dass der Lehrer keine Grenze zwischen seinem Berufsleben und seinem Privatleben zieht. Daraus kann resultieren, dass die Lernenden beginnen, die Lehrperson eher als "Freundin respektive Freund" zu betrachten, was in der Regel zu einer Verringerung der Autorität als Lehrperson führt.

Fazit

 

Die pädagogische Praxis ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Anforderungen, in dem die Lehrenden als zentrale Vermittlungsfiguren eine entscheidende Rolle spielen. Authentizität kann dabei sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringen. Wichtig ist es, eine Balance zu finden, die einerseits eine persönliche und echte Verbindung zu den Lernenden erlaubt, andererseits aber auch die Notwendigkeit einer professionellen Distanz wahrnimmt und sachlich-gerechte Bildungsarbeit nicht aus den Augen verliert.

 

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