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Warum Menschen Wissen anhäufen, aber nicht umsetzen
Autor und Autorin: Manfred Hofferer, Renate Fanninger & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2024
In der modernen Gesellschaft, in der Wissen ständig zugänglich und in Fülle ständig verfügbar ist, scheint es eine wachsende Kluft zwischen dem Erwerb von Wissen und dessen praktischer Umsetzung und Anwendung zu geben. Viele Menschen investieren mitunter erhebliche Zeit und Mühe, um bspw. Bücher zu lesen, Kurse zu belegen oder sich in verschiedensten Bereichen weiterzubilden, doch setzen sie nur einen winzigen Teil dieses Wissens im Alltag oder Beruf um.
Diese Diskrepanz wirft die Frage auf: "Warum neigen manche Menschen dazu, Wissen bloß anzuhäufen, ohne es tatsächlich anzuwenden und in die Praxis umsetzen zu wollen?" Im Folgenden eine Annäherung an verschiedene Gründe, die zur Entstehung dieser Situation beitragen:
1. Psychologische Barrieren und die Angst vor dem Scheitern
Einer der häufigsten Gründe, warum Menschen ihr Wissen nicht in die Praxis umsetzen, ist die Angst vor dem Scheitern. Der Erwerb von Wissen, sei es durch Bücher, Vorträge oder Recherche im Internet, ist ein relativ sicherer Prozess. Frau, Mann und Divers befindet sich in einer Position, in der man keine Fehler machen kann, da man lediglich Informationen aufnimmt. Die Anwendung dieses Wissens jedoch, insbesondere in sozialen oder beruflichen Situationen, birgt immer das Risiko, Fehler zu machen und dadurch in den eigenen und den Augen anderer zu versagen.
Beispiel: Eine Seminarteilnehmerin lernt in einem Kommunikationsworkshop Techniken zur gewaltfreien Kommunikation. Obwohl sie das theoretische Wissen verstanden hat, fällt es ihr schwer, diese Methoden in ihrem beruflichen Umfeld bspw. in Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen anzuwenden. Die Angst, falsch verstanden zu werden oder gar eine eskalierende Diskussion auszulösen, hemmt sie, das Gelernte praktisch umzusetzen. So bleibt das Wissen in ihrem Kopf, ohne die gewünschte Wirkung in der realen Welt zu entfalten.
Lösung: Um diese Barriere zu überwinden, ist es wichtig, in geschützten Räumen möglichst viele praktische Erfahrungen sammeln zu können. Zum Beispiel können Rollenspiele oder moderierte Reflexionen nach realen Anwendungssituationen helfen, die Angst vor Fehlern abzubauen und das Gelernte allmählich in die Praxis zu übertragen.
2. Die Illusion von Kompetenz durch Wissensakkumulation
Das Anhäufen von Wissen führt immer wieder auch zu der Illusion von Kompetenz. Menschen haben das Gefühl, sie seien bereits „bereit“, nur weil sie zu einem Thema oder Inhalt über umfangreiche Kenntnisse verfügen. Tatsächlich ist Wissen aber nur ein Teil des Kompetenzspektrums und die nötigen Erfahrungen und Fertigkeiten entwickeln sich erst durch die wiederholte praktische Umsetzung dieses Wissens.
Beispiel: Ein junger Unternehmer liest mehrere bezahlte Fachbeiträge im Internet über Unternehmensführung und Marketingstrategien. Rasch hat er das Gefühl, für den Start seines eigenen Unternehmens gut vorbereitet zu sein, doch als er versucht, sein Wissen praktisch umzusetzen, steht er vor unerwarteten Herausforderungen, die in den Büchern nicht thematisiert wurden. Der Umgang mit realen Marktbedingungen, Bedürfnissen der Kundschaften und internen Abläufen erfordert mehr als bloß theoretisches Wissen. Erst durch die tatsächliche Führung seines Unternehmens wird er mit der Zeit in der Lage sein, diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern.
Lösung: Ein strukturierter Übergang von Wissenserwerb zur Praxis ist, um kompetent zu sein, unerlässlich. Mentorinnen- und Mentorenprogramme oder „Learning-by-doing“-Ansätze, bei denen das theoretische Wissen unmittelbar in realen Projekten angewandt wird, helfen, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken.
3. Kognitive Überlastung und das „Zuviel“ an Wissen
In einer Welt, in der Wissen überall verfügbar und ständig ist, besteht die Gefahr der kognitiven Überlastung. Wenn Menschen zu viele Informationen aufnehmen, kann sich die Situation einstellen, dass sie Schwierigkeiten haben, diese zu organisieren, zu strukturieren und zu priorisieren. Das hat zur Folge, dass diese Personen zwar viel Wissen angehäuft haben, aber den Weg zur praktischen Umsetzung und Anwendung nicht finden, da sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen.
Beispiel: Eine Person, die sich über gesunde Ernährung informieren möchte, liest zahlreiche Bücher und Artikel, die unterschiedliche Theorien und Ansätze bieten. Anstatt jedoch mit kleinen, praktischen Schritten zu beginnen, fühlt sie sich überwältigt von der Vielzahl an Informationen. Das Ergebnis ist, dass sie gar keine Änderungen in ihrer Ernährung vornimmt, da die Flut an Wissen sie handlungsunfähig macht.
Lösung: In solchen Fällen hilft es, das Wissen zu strukturieren und zu priorisieren. Bildungsprogramme, die validiertes Wissen und praktische Schritte in überschaubaren Einheiten vermitteln und auf direkte Anwendung fokussieren, sind in diesem Kontext äußerst wirksam. Zudem hilft eine begleitete Reflexionen zu erkennen, welches Wissen wirklich nützlich, sinnvoll und umsetzbar ist, um die Informationsflut in den Griff zu bekommen und zu bewältigen.
4. Fehlende Motivation und Relevanz
Manchmal fehlt den Menschen die Motivation, Wissen praktisch anzuwenden, weil sie den Nutzen respektive die Relevanz des in die Praxis umgesetzten Wissens nicht erkennen können. Auch wenn sie sich theoretisch mit einem Thema befassen, können sie das Gelernte nicht in den Kontext ihres eigenen Lebens setzen, was unweigerlich in die Passivität führt.
Beispiel: Eine Angestellte besucht regelmäßig Fortbildungen zur Verbesserung ihrer Führungskompetenzen, sieht jedoch keine unmittelbare Notwendigkeit, diese im Arbeitsalltag anzuwenden, da sie in ihrer derzeitigen Position keine Führungsverantwortung trägt. Auch wenn das Wissen theoretisch nützlich ist, fehlt ihr der Anreiz, es praktisch anzuwenden, da sie die Relevanz für ihre aktuelle Situation nicht sieht bzw. erkennt.
Lösung: Eine enge Verknüpfung von Wissenserwerb und konkreten Anwendungsmöglichkeiten ist entscheidend. Bildungsangebote, die klare Ziele und Anreize zur Umsetzung schaffen, sowie die Erarbeitung von individuellen Handlungsplänen, unterstützen die Lernenden dabei, die Relevanz des Wissens zu erkennen und zu verstehen und die Motivation zur praktischen Umsetzung zu stärken.
5. Die Komfortzone nicht verlassen wollen
Ein weiterer Grund, warum Menschen Wissen anhäufen, aber nicht anwenden, liegt in der Neigung, in der eigenen Komfortzone zu bleiben. Die Umsetzung von Wissen bedeutet oft, neue Wege zu gehen, sich neuen Herausforderungen zu stellen und alte Gewohnheiten zu durchbrechen. Viele Menschen scheuen diesen Aufwand und verbleiben lieber im Status quo.
Beispiel: Eine Führungskraft in einem Unternehmen hat über Jahre hinweg bewährte Methoden verwendet, um Teams zu leiten. Auch wenn sie in Seminaren moderne Führungsmethoden wie hybrides Projektmanagement oder flache Hierarchien kennengelernt hat, zögert sie, diese in die Praxis umzusetzen. Die vertrauten alten Strukturen fühlen sich sicherer an, auch wenn die neuen Methoden in der Theorie vielversprechend und wirksamer sein könnten.
Lösung: Hier ist es hilfreich, kleine Schritte aus der Komfortzone heraus zu machen. Ein schrittweiser und langsamer Wandel mit kontinuierlicher Reflexion und Unterstützung kann dazu beitragen, dass die Möglichkeit zunimmt, dass neue Ansätze ausprobiert werden, ohne dabei das Gefühl zu haben, radikal alte Muster aufgeben zu müssen.
6. Fehlendes soziales Umfeld zur Unterstützung
Wissen lässt sich am besten anwenden, wenn es in einem unterstützenden Umfeld umgesetzt wird. Wenn Menschen kein soziales oder berufliches Netzwerk haben, das die Anwendung des neuen Wissens fördert oder unterstützt, kann dies ein weiterer Grund sein, warum sie ihr Wissen nicht praktisch umsetzen.
Beispiel: Eine Lehrkraft hat in Fortbildungen viel über interaktive Lernmethoden erfahren, doch das Kollegium ihrer Schule bevorzugt traditionellere Methoden. Da diese Person befürchtet, sich mit neuen Ansätzen auf Widerstand zu stoßen oder sogar in die Isolation zu geraten, behält sie das Gelernte für sich und bleibt bei den alten Lehrmethoden.
Lösung: Ein unterstützendes Netzwerk, sei es im beruflichen wie auch im privaten Umfeld, ist entscheidend, um neues Wissen in die Tat umzusetzen. Programme, die den Austausch unter Gleichgesinnten fördern, können helfen, die Umsetzung zu erleichtern und in Gelassenheit neue Ansätze gemeinsam zu erproben.
Fazit
Das Anhäufen von Wissen ohne dessen praktische Anwendung ist eine häufige Herausforderung in der heutigen Wissensgesellschaft. Die Gründe dafür sind vielschichtig und reichen von psychologischen Barrieren über kognitive Überlastung bis hin zu fehlende Relevanz und Motivation. Praktische Bildungsansätze, die klare Verbindungen zwischen Wissen und Anwendung herstellen, tragen entscheidend dazu bei, diese Kluft zu schließen bzw. zumindest zu verkleinern.
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