Du musst es lieben!

Nein, musst du nicht!

Den Erfolgsversprechenden dick ins Stammbuch gekritzelt.

Autorin: Renate Fanninger & Team, © BPÖ 2023

Das Sprüchlein „Du musst lieben, was du tust!“ wird häufig als Motto und Lebensweisheit verwendet, um Menschen dazu zu ermutigen, ihre Leidenschaften zu verfolgen und sich in ihrem Leben und ihrer Arbeit wohlzufühlen. Obwohl das nette Sprüchlein vordergründig positiv klingt, darf man nicht übersehen, dass diesem Sprüchlein ein großer Teil an Un- und Irrsinn innewohnt, der nicht selten problematisch wird.

 

Der Begriff „Unsinn“ wird verwendet, um etwas als sinnlos, irrational, unlogisch oder unplausibel zu beschreiben. Er bezieht sich auf Aussagen, Ideen, Handlungen oder Behauptungen, die keinen vernünftigen oder logischen Zusammenhang aufweisen bzw. die nicht auf gültigen Annahmen und entsprechend nachvollziehbaren Nachweisen beruhen. In der Regel fehlt bei „Unsinn“ eine klare Verbindung zur Realität und zudem gibt es keine plausible Begründung für die gemachten Aussagen.

 

Warum? 12 Gründe, warum es eher selten als öfter eine praktikable oder realistische Aussage ist:

  • Die nette Aussage „Du musst lieben, was du tust!“ impliziert, dass jeder Mensch seine Arbeit bzw. die Aufgaben im Leben bedingungslos lieben muss, was höchst unrealistisch ist und zu realitätsfernen Erwartungen führt. Ganz im Gegenteil wahr und normal ist, dass die überwiegende Anzahl der täglichen Tätigkeiten den Menschen alles andere als begeistern.
     
  • Dazu hat auch nicht jede und jeder die Möglichkeit, ihre respektive seine Leidenschaft bspw. zum Beruf zu machen. Es gibt eine Unzahl von notwendigen Aufgaben und Berufen, die getan werden müssen, auch wenn sie nicht die persönliche Leidenschaft des Einzelnen widerspiegeln.
     
  • Arbeit und Leben bringen Herausforderungen und Schwierigkeiten mit sich, unabhängig davon, ob Frau, Mann oder Divers der Leidenschaft folgt oder nicht. Das ständige Streben nach Leidenschaft und Freude führt öfter als gewünscht zu unrealistischen Erwartungen und lenkt den Fokus von anderen wichtigen Aspekten des Lebens ab.
  • Die starke und unreflektierte Betonung darauf, nur das zu tun, was man liebt, hat unweigerlich zur Folge, dass der Wert anderer wichtiger Tätigkeiten oder Berufe - die weniger oder nicht geliebt werden - nicht erkannt und entsprechend geschätzt werden.
     
  • Das niedliche Sprüchlein hat auch das Potential, Menschen dazu zu bringen, sich wenig wert oder schuldig zu fühlen, wenn sie das, was sie tun (müssen) - ihre Arbeit - nicht lieben. Das erzeugt psychischen Druck und der wirkt auf höchst unangenehme Weise auf die Person und bestimmt das Lebensgefühl und die Entscheidungen mit.
     
  • Die Aussage „Du musst lieben, was du tust“ fördert in jedem Fall immer gleichzeitig die Wahrnehmung, dass der Selbstwert primär durch die Liebe zu dem, was Frau, Mann oder Divers tut und liebt, definiert wird. In dieser Situation entsteht eine wenig hilfreiche Blindheit hinsichtlich der vielen anderen Möglichkeiten. Meint: „Wenn ich etwas nicht liebe, tue ich es nicht!“
  • Damit eng in Verbindung steht die Einschränkung der Vielfalt von Erfahrungen. Liegt der Fokus überwiegend oder ausschließlich auf der Liebe zu dem, was man tut, verengen sich gleichzeitig auch die Möglichkeiten, neue Aktivitäten auszuprobieren, die potenziell erfüllt sein könnten, aber nicht auf Anhieb liebenswert erscheinen.
     
  • Auch ein nicht zu unterschätzender Umstand ist, dass das Streben nach „Ich muss lieben, was ich tue“ zur Folge hat, dass bspw. negative Beziehungs- oder Arbeitsbedingungen verschleiert und ignoriert werden und bloß das irrige und wenig gesunde Streben nach „Ich muss alles lieben, was ich tue“ vorantreiben.
     
  • Zudem darf nicht außer Acht gelassen und übersehen werden, dass nicht jede und jeder die Möglichkeit hat, seine bzw. ihre Leidenschaft zu verfolgen, selbst wenn er, sie oder divers es möchte. Finanzielle, familiäre oder gesundheitliche Aspekte können es schwierig bis unmöglich machen, solche Ziele zu erreichen.
  • Eine zusätzliche Tatsache ist, dass das, was jemand liebt, sich im Laufe der Zeit in der Regel ändert. Der Versuch, ständig die eigenen Leidenschaften in Alltag oder Arbeit zu verwandeln, fördert in Wahrheit mehr Insuffizienz-, Unzufriedenheits- als Glückgefühle.
     
  • Des Weiteren ist das Sprüchlein auch nicht unbedingt förderlich, wenn es um das wichtige Thema Selbstwert geht. Ist die Wahrnehmung stimuliert, dass der Selbstwert Großteils oder ausschließlich durch die Liebe zu dem, was man tut, definiert ist, hat das zur Folge, dass mehr Möglichkeiten, Varianten und Chancen aus- als eingeschlossen werden mit der unangenehmen Folge der massiven Reduktion des Selbstwerts und der Zufriedenheit.
  • Und schließlich soll gesagt sein, dass bedeutungsvolle und wichtige Arbeit auch ohne Leidenschaft existieren: Es gibt eine ganze Reihe von Aktivitäten im Privatleben und in Berufen, die zwar nicht die persönliche Leidenschaft der Ausübenden widerspiegeln, aber dennoch einen bedeutenden Beitrag zur Beziehung, Familie oder/und der Gesellschaft leisten und den Menschen Erfüllung bringen können. Vielmehr wahr ist, dass die Bedeutung und Wertschätzung dessen, was getan oder erledigt wird, völlig unabhängig von den persönlichen Leidenschaften empfunden und gesehen werden kann.

Insgesamt muss der Spruch „Du musst lieben, was du tust“ mit Vorsicht betrachtet werden. Wichtig im Leben ist, dass nach einem ausgewogenen Ansatz gesucht werden muss, der die persönlichen Leidenschaften berücksichtigt, aber auch die Realitäten des Lebens und der Arbeit nicht aus den Augen verliert. Nicht selten ist es sinnvoller, die Kompetenz zu entwickeln, das zu tun, was zu tun ist, anstatt zwanghaft danach zu streben, dass die Tätigkeit oder Arbeit selbst die Leidenschaft sein muss.

 

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